Chromosomenabberationen

von Raymonde Harland

erschienen in "katzen extra" 2/98 und im RKS-Magazin 04/07

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Oft kann man an den Ausnahmen leichter die Regeln erkennen. Für die Biologie und ganz besonders für die Genetik gilt das alte Sprichwort "Ausnahmen bestätigen die Regel" doppelt. 

Zwei bekannte Ausnahme-Erscheinungen sind der "Schildpatt-Kater" und die "einfarbige Schildpatt-Kätzin". Mit  ihren Chromosomen-Besonderheiten wollen wir uns in dieser Folge der Genetikserie beschäftigen. 

Tiffanie the Fabulous, Maine Coon

In einer anderen Folge des Einstiegs in die Genetik haben wir geklärt, daß Ei- und Samenzellen nur den halben Chromosomensatz wie alle anderen Zellen haben. Die Ur-Samen und Ur-Eizellen haben aber noch den vollständigen Chromosomensatz. Erst durch die Reifeteilung (Meiose oder Reduktionsteilung) entstehen die Geschlechtszellen mit 19 Chromosomen. Bei der Vereinigung von Ei und Samen entsteht wieder eine Zelle mit vollständigem Chromosomensatz, aus der sich ein neues Lebewesen entwickeln kann. 

Leider geht bei der Reduktionsteilung nicht immer alles glatt. Es kann eine Nondisjunkction passieren, d.h. ein oder mehrere Chromosomen können sich in die falsche Hälfte der Ur-Geschlechtszelle "verirren". So entstehen statt zwei Zellen mit je 19 Chromosomen, zwei Zellen mit z. B.  18 bzw. 20 Chromosomen. Kommen bei der Vereinigung Samen bzw. Ei mit normalen 19 Chromosomen hinzu, so entstehen Lebewesen mit unnormaler Chromosomenanzahl. (s. Abb. 1) Aus der Humanmedizin sind ähnlliche Fälle bekannt, z. B. Trisomie 21 auch Down-Syndrom genannt.  

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Sind es die Geschlechts-Chromosomen, die sich bei der Reduktionsteilung falsch verteilt haben, so entstehen Katzen mit ganz spezifischen Symptomen. Ein Kater mit zwei X-Chromosomen und einem Y-Chromosom wird Klinefelter genannt. Er zeichnet sich durch Kleinhodigkeit aus und ist in fast allen Fällen unfruchtbar, obwohl er durchaus Interesse am anderen Geschlecht zeigt.. Sekundäre Geschlechtsmerkmale fehlen häufig, außerdem ist eine Entwicklungsverzögerung zu beobachten. 

Eine Kätzin mit drei X-Chromosomen nennt man Superfemales. Dies sind nicht etwa suberweibliche Kätzinnen, sondern auch bei ihnen ist die Sexualentwicklung meistens gestört und sie werden nie rollig. 

Eine Kätzin mit nur einem X-Chromosom (Turner-Syndrom) ist lebensfähig, aber häufig zwergwüchsig, infantil und unfruchtbar. Auch eine Hormontherapie schlägt bei ihr nicht an. 

Ein Kater mit Y-Chromosom aber ohne X-Chromosom ist nicht lebensfähig und stirbt schon im Mutterleib ab, d.h. es ist für jedes Lebewesen mindestens ein X-Chromosom nötig.  

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Wenn man bedenkt, daß das dreifache Vorhandensein von Chromoson Nr. 21 beim Menschen sehr schwere Schäden hervorruft (Down-Syndrom früher Mongolismus genannt), so sind die Schäden, die ein überzähliges X-Chromosom hervorruft, gering. Dies ist besonders erstaunlich, da das X-Chromosom das größte der Chromosomen ist und sehr viele Informationen enthält. Lange Zeit war dies für die Genetiker ein Rätsel, bis sie entdeckten, was mit den X-Chromosomen nach der geschlechtlichen Vereinigung passiert. Nur ein X-Chromosom pro Zelle ist nämlich vollständig aktiv, die anderen werden in ein Barr-Körperchen umgewandelt und üben nur noch wenig Einfluß aus. Dies ist auch bei den normalen weiblichen Lebewesen der Fall, von den normal vorhandenen zwei X-Chromosomen ist auch hier nur eines vollständig aktiv. Dieses Phänomen nennt man Lyon-Inaktivierungsmechanismus. 

Tinkerbelle the Fabulous, Maine Coon

Was hat dies alles nun mit dem "Schildpatt-Kater" und der  "einfarbigen Schildpatt-Katze" zu tun? Dazu müssen wir uns noch einmal alles über die rote Farbe ins Gedächtnis rufen: Rot wird geschlechtsgebunden vererbt. Das heißt die Allele rot/nicht rot liegen auf dem X-Chromosom. Ein weibliches Wesen hat normalerweise zwei X-Chromosomen, eines vom Vater und eines von der Mutter. Hatten die Eltern verschiedene Farben, also z. B. Mutter schwarz und Vater rot, so stehen die "Schalter" für die Allele rot und nicht-rot auf jedem X-Chromosom in einer anderen Stellung. Da ein X-Chromosom in ein Barrkörperchen umgewandelt wird, wird eine Farbe ausgeschaltet. Dieser Prozeß findet in jeder Körperzelle unabhängig und zufällig im frühen Embryonalstadium statt. So entsteht eine Kätzin, die beide Farben zeigt, also eine Schildpatt-Kätzin. Hat ein Kater auch zwei X-Chromosomen (Klinefelter), so findet bei ihm der gleiche Prozeß statt. Hatten die Eltern verschiedene Grundfarben,  kann er beide Farben zeigen - ein seltener Schildpatt-Kater. Hatten die Eltern des Katers die selbe Grundfarbe, so ist der Kater natürlich auch ein Klinefelter - aber es ist äußerlich an der Fellfarbe nicht zu sehen. 

Bei einer Kätzin mit nur einem X-Chromosom ist natürlich auch nur eine Farbe zu sehen. Hatten die Eltern die selbe Grundfarbe, so fällt dies nicht auf. Waren die Eltern in der Grundfarbe unterschiedlich, z. B. der Vater schwarz, die  Mutter rot, so werden alle Mädchen mit normaler Chromosomenzahl schildpatt sein, während ein Mädchen mit nur einem X-Chromosom einfarbig ist.

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Um einen der seltenen fruchtbaren Schildpattkater zu erhalten, muß der Zufall ein weiteres Mal mitspielen. In der Meiose läuft bei diesem Tier alles wie bei dem unfruchtbaren Schildpattkater. In der Mitose jedoch kann die Verdoppelung der Chromosomen und die Teilung der Zelle in zwei Tochterzellen wieder zu einer unregelmäßigen Verteilung der Chromosomen führen. Bei einem solch unausgewogenen Verhältnis wie in der Klinefelter-Zelle kann dies sogar verhältnismäßig oft vorkommen. Die beiden Tochterzellen, die aus der Klinefelter-Zelle entstehen, haben also ein neues Genom. Die Klinefelter-Zelle hatte das Genom XXY und die Tochterzellen haben XY und XXXY (dies ist eine andere Ausprägung einer Klinefelter-Zelle). Ein X ist also in eine der Tochterzellen übergewandert, dafür ist die andere Tochterzelle eine ganz normale männliche Zelle geworden und führt daher auch zu normaler  Fruchtbarkeit, wenn solche normalen Zellen in genügender Anzahl vorhanden sind. Man nennt solche Tiere auch Mosaik, da sie aus mehreren Zelltypen "zusammengesetzt" erscheinen. Siehe Abb. 4. Vererben kann dieser Kater beide Farben, aber immer nur getrennt, da seine Spermien wiederum nur ein X-Chromosom haben. Einen Kater, der schildpatt vererbt, kann es also nicht geben.  

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Genau der selbe Mechanismus ist am Werk, wenn eine fruchbare X0-Kätzin entsteht. Auch hier handelt es sich um ein Mosaik-Tier mit einem Anteil von ganz normalen XX-Zellen. 

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Viele züchterisch unerwartete Ergebnisse haben als Ursache diese Chromosomenaberration. Durch eine einfache Blutuntersuchung (für ca 50,-DM in der Universität Gießen) können diese besonderen Konstellationen nachgewiesen werden. In den Zellen wird dann die Anzahl der Barrkörperchen gezählt. Eine Kätzin ohne Barrkörperchen ist eine X0-Katze, ein Kater mit einem oder mehreren Barrkörperchen ist ein Klinefelter, eine Kätzin mit mehr als einem Barrkörperchen ist eine Superfemale. Unfruchtbarkeit kann durch diese einfache Untersuchung eine Erklärung finden. 

Sollten Sie einen Schildpatt-Kater besitzen, so stellen Sie dieses "Wundertier" ruhig einmal aus, die Aufmerksamkeit aller Züchter ist Ihnen sicher. 

Ich hoffe unser Einstieg in die Genetik war für Sie ein Anstoß sich näher mit diesem faszinierenden Thema zu beschäftigen z. B. mit dem Buch: Das Geheimnis der dreifarbigen Katzen oder dem genetischen Mosaik auf der Spur von Laura Gould, 1997erschienen im Birkhäuser Verlag ISBN 3-7643-5656-1 geb. 39,80 DM.Ich wünsche Ihnen dabei viel Spaß.