Zuchtberatung

Blauschildpatt und schwarzschildpatt gleichzeitig - geht das?

von Raymonde Harland

erschienen in "katzen extra" 5/98

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Frage:Vor einigen Wochen sah ich in einer amerikanischen Main-Coon-Zeitschrift das Farbfoto einer höchst seltsamen Maine Coon. Sie war blauschildpatt und schwarzschildpatt auf weiß gleichzeitig. Die vier verschiedenen Farben rot, schwarz, creme und blau hoben sich deutlich von einander ab in großen Flecken auf dem Rücken, Bauch und Beine waren weiß. Bisher hatte ich immer geglaubt, daß eine Katze entweder blau- oder schwarz-schildpatt sein kann, aber niemals beides gleichzeitig.

Tinkerbelle the Fabulous, Maine Coon

Um die Verwirrung noch zu erhöhen, stellte es sich heraus, daß dieses Tier ein fruchtbarer Kater war. Bisher war ich der Meinung, daß schildpatt Kater alle unfruchtbar sind.

Dieses Rätsel hat mir viele schlaflose Nächte bereitet. Kann es tatsächlich ein solches Tier geben? Oder handelt es sich um eine Fälschung?

 

Antwort: Dies ist in der Tat ein großes genetisches Rätsel und es hat auch mich einige schlaflose Nächte gekostet, wenigstens eine Hypothese zur Lösung zu finden.

Zunächst einmal zu der Entstehung von schildpatt Katern. Um beide Farben, rot und schwarz zu zeigen, benötigt eine Katze oder eine Kater zwei X-Chromosomen von denen jedes eine verschiedene "Schalterstellung" auf dem Gen-Locus O aufweist. Ein großes O symbolisiert in der Katzengenetik die Schalterstellung rot (auch orange genannt) und ein kleines o bedeutet die Schalterstellung "nicht-rot" (nicht-orange), also jede Ausprägung von schwarzem Farbstoff. Eine Katze ist normalerweise mit zwei X-Chromosomen ausgestattet, deshalb hat sie immer die Möglichkeit schildpattfarben zu werden, vorausgesetzt, die Eltern vererbten ihr zwei verschiedene "Schalterstellen". Ein Kater hat normalerweise nur ein X-Chromosom und kann daher auch nur eine "Schalterstellung", rot oder nicht-rot, zeigen.

Samantha the Fabulous, Maine Coon

Durch Fehler bei der Reduktionsteilung im Laufe der Herstellung von Keimzellen, können sowohl fehlerhafte Eier mit zwei X-Chromosomen, als auch fehlerhafte Spermien mit der Konstellation XY entstehen. Normale Eier haben nur ein X-Chromosom und normale Spermien entweder ein X- oder ein Y-Chormosom. Bei der Befruchtung entstehen nun also fehlerhafte Zygoten, die ein X-Chromosom zuviel haben. Die Konstellation XXY nennt man auch Klinefelter. Diese Kater sind unfruchtbar. Insoweit haben Sie recht. Doch weniger als ein Drittel der wissenschaftlich untersuchten Schildpattkater gehört zum Gentyp XXY. Es gibt nämlich noch andere Möglichkeiten, als Kater zu einer Schildpattfärbung zu kommen.

Des Rätsels Lösung liegt auf der Hand, wenn man die Gen-Typen der Schildpattkater betrachtet, die keine Klinefelter sind. Etwas mehr als ein Drittel der wissenschaftlich untersuchten Schildpattkater sind genetisch komplizierte Mosaiktiere. Das heißt, sie haben verschiedene Zelltypen. Es gibt Tiere mit bis zu vier verschiedenen Typen z. B. XX/XY/XXY/XXYY. Ein solches Tier hat Zellen mit der normalen weiblichen Konstellation XX, mit der normalen männlichen Konstellation XY, mit der Klinefelter Konstellation XXY und sogar mit der Doppelkonstellation XXYY. Ein weiteres Phänomen ist, daß fast ein Fünftel der wissenschaftlich untersuchten Schildpattkater die ganz normale männliche Konstellation XY besitzt. Ca 17 % der untersuchten Tiere war nachweislich fruchtbar. Wie kann es zu solch kuriosen Gen-Konstellationen kommen?

Samantha the Fabulous, Maine Coon

Eine Möglichkeit für ein Mosaik-Tier besteht in der fehlerhaften Zellteilung einer Zygote in sehr frühem Stadium (Mutation). Bei einer Zellteilung wird zunächst der Chromosomensatz verdoppelt, dann auf die beiden Zellhälften verteilt, um schließlich in zwei getrennten Zellen zu existieren. Bei diesem Zell-Vermehrungs-Prozeß kann es geschehen, daß die X-Chromosomen falsch verteilt werden und so Zellen mit einem überzähligem X-Chromosom entstehen. Diese Zellen setzen diesen Fehler durch weitere Zellteilung fort und es entsteht eine Zelllinie mit falscher Chromosomenzahl. Da in dem kugeligen Zellhaufen, den das beginnende Leben bildet, dieser Fehler nur in einer Zelle geschehen ist, haben die übrigen Zellen eine normale Chromosomenzahl und bilden normale Zelllinien - ein Mosaiktier ist entstanden. Es schadet der Entwicklung übrigens nicht, wenn bei diesem Prozeß nicht lebensfähige Zelllinien ohne X-Chromosomen entstehen, denn der kugelige Zellhaufen ist in diesem Stadium noch sehr flexibel und kann solche Verluste ausgleichen. Dies wird z.B. durch eineiige Zwillinge bewiesen. Der Zellhaufen teilt sich in zwei unabhängige Haufen und jede Hälfte ist in der Lage diesen Verlust von der Hälfte der Zellen auszugleichen und einen Zwilling auszubilden.

Eine weitere Möglichkeit als Kater zu einem Schildpattfell zu kommen und eventuell sogar verdünnte und Vollfarben gleichzeitig zu zeigen, könnte in eben dieser Flexibilität des kugeligen Zellhaufens begründet sein. Dies betrifft die Schildpattiere mit der Konstellation XX/XY (Katzenzwicke genannt) oder XYrot/XYnichtrot oder noch komplizierteren Konstellationen. Ein Zellhaufen übersteht nicht nur unbeschadet eine Teilung in diesem frühen Lebensstadium (Entstehung eineiiger Zwillinge), sondern auch die Verschmelzung von zwei oder sogar mehr Geschwister-Zellhaufen zu einem einzigen Lebewesen. Dies nennt man Chimäre. Ist einer der Zellhaufen mit einer falschen Chromosomenanzahl behaftet, so kann z. B. die Konstellation XXY/XY entstehen - ein "halber Klinefelter" sozusagen. Das Schildpattmuster entsteht dabei natürlich nur, wenn die "Schalterstellung" auf den verschiedenen X-Chromosomen unterschiedlich ist, rot oder nicht-rot. Dieser "halbe Klinefelter" ist wahrscheinlich fruchtbar, denn seine normalen XY Keimzellen könnten normales Sperma produzieren. Auch die Verschmelzung von zwei normalen männlichen Zellhaufen kann ein Schildpattmuster ergeben, wenn der eine XYrot und der andere XYnicht-rot war. Wahrscheinlich entsteht hierbei ein fruchtbarer Schildpattkater mit ganz unauffälliger normaler XY-Chromosomen-Konstellation, der man nicht ansehen kann, daß sie eigendlich XYrot/XYnicht-rot ist.

tiffanie the Fabulous, Maine Coon

Geht man nun in den Gedankenspielen noch einen Schritt weiter und stellt sich vor, daß zwei Zellhaufen verschmelzen, die weitere unterschiedliche "Schalterstellungen" auf anderen Genen aufweisen, so kann man zu einem Tier kommen, daß gleichzeitig blau-schildpatt und schwarz-schildpatt zeigt. Hierbei stand bei dem einen Zellhaufen die "Schalterstellung" auf dem Gen D/d auf Verdünnung, bei dem anderen Zellhaufen auf Vollfarbe. Dies könnte man auch auf andere Gene anwenden, z. B. das Chocolate-Gen B/b. Es wären so auch Tiere denkbar, die ein Muster aus chocolate und schwarz zeigen. Der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt - der Natur offensichtlich schon.

Je mehr Gene in zwei verschmelzenden Zellhaufen unterschiedlich sind, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, daß die Chimäre doch nicht lebensfähig ist. Ein Tier, daß gleichzeitig verdünnte und nicht-verdünnte Farbe zeigt und dazu noch ein seltener fruchtbarer Schildpattkater ist, ist also extrem selten, aber eventuell doch möglich!

Es gibt also, grob eingeteilt, wahrscheinlich drei Möglichkeiten für einen Kater zu einer Schildpattfärbung zu kommen:

1. durch fehlerhafte Zellteilung vor der Befruchtung. Dadurch entstehen unfruchtbare Klinefelter. Wie normale Katzen haben Klinefelter keine Möglichkeit Verdünnung und Vollfarbe gleichzeitig zu zeigen.

2. durch fehlerhafte Zellteilung nach der Befruchtung, dadurch entstehen teilweise fruchtbare Mosaiktiere. Da Mosaiktiere ebenfalls aus nur einer befruchteten Zelle entstehen, haben auch sie keine Möglichkeit gleichzeitig blau- und schwarzschildpatt zu sein.

3. durch Verschmelzung von Geschwistern kurze Zeit nach der Befruchtung, dadurch entstehen Chimären, die auch teilweise fruchtbar sein können.

Da Chimären aus zwei, oder sogar noch mehr, einzelnen Individuen entstehen, haben sie als einzige die Möglichkeit Verdünnung und Vollfarbe gleichzeitig zu zeigen.

Samantha the Fabulous, Maine Coon

Die dritte Möglichkeit zu einem Schildpattkater ist lediglich meine Theorie zu diesem Phänomen. Ich kann sie nicht beweisen, auch wenn sie auf den bisher bekannten Vorgängen am Anfang eines neuen Lebens fußen. Vielleicht interessieren sich in naher Zukunft Genetiker für dieses Rätsel und untersuchen den Kater mit der seltsamen Färbung genauer. Es gelingt ihnen vielleicht die Lösung zu finden, die unter Umständen auch ganz anders aussieht, als meine Gedankenspiele dazu. Denkbar wäre z. B. auch eine bisher unbekannte Stoffwechselerkrankung als Ursache der seltsamen Färbung dieses Katers.